Valuation

Immobilienbewertung in der aktuellen Marktphase

Stefan Gunkel FRICS
Geschäftsführer der Angermann Valuation & Advisory GmbH

Interview mit Stefan Gunkel FRICS, Geschäftsführer der Angermann Valuation & Advisory GmbH

Was beschäftigt Sie bei Ihrer Arbeit als Immobiliengutachter derzeit am meisten?
Aktuell sind hier drei Aspekte zu nennen. Zum einen gibt es momentan kaum Transaktionen, die als Vergleichsbasis dienen. Außerdem beschäftigt uns die Art und Weise, mit der wir die gegenwärtigen sowie zukünftige ESG/GEG-Vorgaben in die Wertermittlung einfließen lassen müssen. Darüber hinaus befassen wir uns mit den einzelnen Inhalten der neuen BelWertV 2022.


Wie gehen Sie damit um, dass es momentan kaum Vergleichstransaktionen gibt?
Das ist tatsächlich ein komplexes Thema, da Immobiliengutachter ja schlecht sagen können, dass sie aufgrund dieses Tatbestands keine Marktwerte mehr ermitteln können. Erstaunlicherweise entwickeln sich in der aktuellen Marktphase diverse Parallelprodukte wie „Marktwerte unter Berücksichtigung von ESG/GEG-Vorgaben“, „Marktwerte nach überstandener Krise“ etc. Diese Konstrukte führen natürlich den etablierten Marktwertbegriff völlig ad absurdum, da es nur EINEN Marktwert gibt. Und genau diese Frage gilt es zu beantworten: „Wie schätzen Sie den aktuellen Marktwert der Immobilie ein?“ 
 

Und wie gelingt es Ihnen hier eine Antwort zu finden?
Sicherlich sind wir stets in der Lage, uns aus der Gemengelage aus Vergangenheitskennzahlen, aktuellen Entwicklungen, Gesprächen zwischen „dealbereiten“ potentiellen Verkäufern sowie Käufern ein Bild zu verschaffen sowie unsere finale Einschätzung abzugeben. Dies erwarten insbesondere Kreditinstitute von uns, die ja auf irgendeiner Grundlage finanzieren, prolongieren oder entsprechende Risikoabwägungen durchführen müssen. Mehr denn je nimmt der allgemeine Textteil an Bedeutung zu, da Bewertungsannahmen detailliert zu beschreiben sind. Diese Verpflichtung liegt insbesondere darin begründet, dass zurzeit nichts mehr ist, wie es einmal war.
 
 

Warum ist das so? 
Ganz klar aufgrund der dynamischen Entwicklungen der vergangenen zwei bis drei Jahre, wobei insbesondere die nachwirkende Corona-Zeit, der Ukraine-Konflikt in Verbindung mit seinen zahlreichen Auswirkungen, das sehr schnell gestiegene Zinsniveau sowie die bereits existierenden sowie anstehenden ESG/GEG-Vorgaben anzuführen sind. Zuvor gab es immer wieder längerfristige Phasen, in denen sich nicht sehr viel bewegt hat. Hier konnte man rechnerisch sowie textlich auf langjährige Erfahrungswerte zurückgreifen, was in der gegenwärtigen Phase überhaupt nicht mehr möglich ist, weshalb detaillierte Erläuterungen zu den einzelnen Bewertungsannahmen unerlässlich sind. 


Bezüglich des Einflusses der ESG/GEG-Vorgaben in die Wertermittlung, wo stehen wir aktuell?
Fakt ist, dass der Tatbestand in die Preisfindung und damit in die Immobilienbewertung Einzug gehalten hat. Auffallend ist, dass es sowohl inhaltlich als auch in der Höhe der Ansätze klare Abweichungen gibt. So haben sich inzwischen zahlreiche Berater mit der Definition eines Maßnahmenkatalogs sowie dessen monetärer Hinterlegung auseinandergesetzt. Es gilt zu vermeiden, dass die Immobilie als „Stranded Asset“ endet. 
Schaut man sich die prognostizierten Preise für durchzuführende Maßnahmen, wie neue Wärmepumpen, alternative Heizkonzepte, Dämmung, 3-fach Verglasung, Abdichtungen, PV-Anlagen etc. an, so trifft man schnell auf Bereiche, die sich zwischen EUR 100 - 1.000/m² Mietfläche bewegen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass bei Modernisierungsmaßnahmen eher von den maximalen Ansätzen ausgegangen werden sollte. Hier spielen sicherlich exorbitant hohe Kosten, Lieferengpässe, gestiegene Zinsen etc. eine entscheidende Rolle. Im Prinzip hat man die gleichen Probleme wie bei einem Neubau. 
 

Können Sie das bitte noch etwas konkreter ausführen?
Mir sind zahlreiche Kostenprognosen zu ESG/GEG-Maßnahmen von unterschiedlichsten Stellen und Quellen bekannt, die auf bestehenden Erfahrungswerten aufbauen und im Prinzip schlüssig sind. Die Realität scheint aber, zumindest teilweise, eine andere zu sein. Wenn sich die Neubaukosten, wie es verschiedene statistische Landesämter offiziell ausweisen, für Wohnbebauung aktuell zwischen EUR 3.500 und 4.000/m² Wohnfläche bewegen, und dies wohlbemerkt ohne Bodenwertanteil, kann man davon ausgehen, dass für zweckgebundene Modernisierungsmaßnahmen zumindest ein vergleichbares Kostenniveau anzusetzen ist, was natürlich auch auf gewerbliche Liegenschaften zutrifft. Als weiteres substanzielles Problem erachte ich darüber hinaus die immer noch vorherrschenden extrem langen Ausführungszeiten, hervorgerufen durch einen nachweislichen Fachkräftemangel sowie von Lieferengpässen, die die Kosten zusätzlich in die Höhe schnellen lassen.  


Wo finden die ESG/GEG-Einflüsse nun ihren Niederschlag in der Immobilienbewertung?
Die ESG/GEG-Annahmen, die als nachhaltige Reserven wirken, werden in der Immobilienbewertung unter der Rubrik „Besondere objektspezifische Grundstücksmerkmale“ angesetzt. Darüber hinaus werden sie zunehmend im Bereich der Betriebskosten als Teil der Bewirtschaftungskosten, die der Eigentümer zu tragen hat, verbucht. Betriebskosten sind laufende Kosten, die durch das Eigentum an oder den bestimmungsgemäßen Gebrauch von Grundstück, Gebäuden sowie sonstigen Anlagen entstehen. In der Vergangenheit konnten die für die Mietflächen anfallenden Betriebskosten vollständig auf den Mieter umgelegt werden. Da jedoch davon auszugehen ist, dass das zukünftig nicht mehr in vollem Umfang möglich sein wird (siehe u.a. anteilige CO2-Abgabe), wählen wir in unseren Gutachten Ansätze von bis zu 2,0 % des Jahresrohertrags. 
Zusammenfassend entspricht die Tatsache, dass höhere Betriebskostenansätze sowie ESG/GEG-Reserven gewählt werden, inzwischen den Gepflogenheiten des allgemeinen Geschäftsverkehrs betreffend Immobilientransaktionen und -bewertungen. Mittelfristig wird man die konkreten Maßnahmen exakt monetär beziffern können, was mit individuellen Ansätzen anstatt mit allgemeinen Rücklagen verbunden sein wird.
 

Am 08. September 2023 hat der Bundestag nun die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) beschlossen. Kern sind die Vorgaben für neue Heizungen, die nach allgemeinem Verständnis gegenüber dem ursprünglichen Entwurf deutlich entschärft wurden. Welchen Einfluss hat das in Bezug auf das zuvor Gesagte?
Es hat einen fundamentalen Einfluss, da die Bereitstellungs- und Lösungshoheit damit nun wieder auf den Staat übergeht, wie es aus einer Vielzahl von Gründen eigentlich auch sein sollte.  
Kern des novellierten Gesetzes ist, dass sich neu eingebaute Heizungen künftig mit mindestens 65% erneuerbaren Energien betreiben lassen müssen. Diese Vorgabe gilt ab dem 1. Januar 2024 nur für Neubaugebiete „Bauende“. Für Heizungen in Bestandsgebäuden und in Neubauten außerhalb von Neubaugebieten ist die 65-%-Regelung erst vorgesehen, wenn kommunale Wärmeplanungen vorliegen. Das bedeutet für Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern spätestens ab dem 1. Juli 2026 und für kleinere Kommunen spätestens ab dem 1. Juli 2028. 
Das ist jetzt alles ganz neu und frisch und muss sich erst einmal setzen. Ich gehe aber davon aus, dass sich die wohn- und gewerblichen Immobilienmärkte gleichermaßen beruhigen werden, da man Eigentümern sowie potentiellen Erwerbern nicht mehr die Umweltpistole auf die Brust setzt, was zu deutlich mehr Planungssicherheit führen wird, die in den vergangenen Monaten überhaupt nicht mehr gegeben war. Daraus sollten sich positive Nachfrageimpulse ergeben, worauf alle gewartet haben, wenn damit sicherlich auch nicht alle immobilienwirtschaftlichen Probleme gelöst sind. 
Jetzt gilt es zu beobachten, ob und in welcher Form die vorgenannten ESG/GEG-Reserven zukünftig gewählt werden, was einen erheblichen Einfluss auf die Preisfindungen und in Folge auf die Immobilienbewertungen haben wird.


Was beinhaltet der neue BelWertV?
Neu ist, dass das Modernisierungs- bzw. Revitalisierungsrisiko, das auf Basis der Baukosten kalkuliert wird, aus dem 15%igen Mindestansatz der Bewirtschaftungskosten ausgeklammert wird, was zu höheren Ansätzen verbunden mit niedrigeren Werten führt. 
Darüber hinaus wurden die fixen Mindestkapitalisierungszinssätze dynamisiert. Dies erfolgt durch Anknüpfung an die Entwicklung der Rendite 30-jähriger Bundesanleihen plus eines festen nutzungsartspezifischen Zuschlags. Die BaFin teilt jährlich die sich neu ergebenden Mindestkapitalisierungszinssätze auf ihrer Internetseite mit. Diese betragen derzeit für Objekte mit wohnwirtschaftlicher Nutzung 5,1 % und für Objekte mit gewerblicher Nutzung 6,1 %. Die Mindestkapitalisierungszinssätze dürfen nun auch für erstklassige Wohnimmobilien um 0,5 Prozentpunkte unterschritten werden, was bislang nur für erstklassige Gewerbeimmobilien galt.
Erwähnenswert ist auch, dass die maximal anzusetzenden Nutzungsdauern für Warenhäuser und Einkaufszentren von 50 auf 40 Jahre reduziert wurden.


Was bedeuten diese Neuerungen für die Bewertung von Immobilien?
Fakt ist, dass die neuen Vorgaben zum Modernisierungs- bzw. Revitalisierungsrisiko bzw. zu den Mindestkapitalisierungszinssätzen (betrugen früher 5% für Wohnobjekte und 6% Gewerbeimmobilien), wie bereits oben angedeutet, wertreduzierend wirken. Das ist deshalb interessant, da man zu Zeiten der Höchstpreise der vergangenen Jahre permanent darüber diskutiert hat, die Mindestkapitalisierungszinssätze abzusenken, um das Gap zwischen Markt- und Beleihungswerten nicht zu groß werden zu lassen. Aktuell geht dagegen die tendenzielle Erhöhung absolut in die richtige Richtung, wenn ich auch kein Freund der 100%igen Verknüpfung an Bundesanleihen bin, die sicherlich einen Effekt haben, der aber nicht ausschließlich ist, da zahlreiche Komponenten auf Immobilienpreise wirken. Hier sind u.a. Asset Klassen per se, Nutzungskonzepte, Nachhaltigkeitsthemen, Mietermarkt, EK-/FK- Anteile etc. zu nennen. 


Ist eine langjährige Berufserfahrung für einen Immobiliengutachter derzeit wichtiger denn je?
Eine langjährige Erfahrung hat sicherlich Vorteile, da sich auf dieser Grundlage Änderungen und Anpassungen voraussichtlich schneller erfassen, verstehen und abbilden lassen. Andererseits werden die meisten Immobiliengutachten aufgrund deren Zwecke (z.B. Finanzierung oder Bilanzierung) sowieso von qualifizierten und / oder zertifizierten Gutachtern erstellt und signiert. Diese Qualifizierung bzw. Zertifizierung setzt i.d.R. einen Hochschulabschluss voraus, der einem nach mehrjähriger Tätigkeit im relevanten Bereich (i.d.R. fünf bis sieben Jahre) ermöglicht, einen von der BaFin anerkannten Bewertertitel (Chartered Surveyor (MRICS oder FRICS), ö.b.u.v. Sachverständiger oder HypZert (F)) zu erwerben. Somit ist bei zahlreichen Sachverständigen, die diese Art der Gutachten anfertigen dürfen, per se von einer umfassenden Berufserfahrung auszugehen.


Inwieweit sind die Anforderungen größer geworden und welchen Einfluss hat das auf die Zeit, die eine Immobilienbewertung durchschnittlich in Anspruch nimmt?
Wie bereits an vorhergehender Stelle beschrieben, sind Immobilienbewertungen aufgrund der gegebenen Rahmenbedingungen derzeit wesentlich individueller und weniger standardisierter ausgestaltet als in der Vergangenheit, so dass sich der Zeitaufwand im Schnitt sicherlich erhöht hat.


Glauben Sie, dass die Bewertung von Immobilien zukünftig noch komplexer wird?
Ich befürchte es, was ich darin begründet sehe, dass aufgrund der politischen Landschaft weiterhin mit zahlreichen Gesetzesänderungen sowie neuen Verordnungen zu rechnen ist. Aufgrund der Entwicklungen der vergangenen Wochen in Verbindung mit den Wahlprognosen gehe ich davon aus, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse als Ergebnis der Bundestagswahl in 2025 substanziell verändern werden, so dass auch nach 2025 keine Ruhe und Stabilität in Bezug auf die komplexe Gesetzes- und Verordnungslage, die direkt oder indirekt den Bereich der Immobilienbewertung betrifft, einkehren dürfte, so dass die Aufgaben und Anforderungen zukünftiger noch individueller und aufwendiger werden dürften.  
 

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